Ein recht interessantes Zwiegespräch …
Neulich bei einem wirklich guten Cognac
„Langsam, langsam, junger Mann“, fiel mir Jonny gemächlich ins Wort, „lass ma doch erstmal en Bierchen bestellen, Durst jeht immer vor, sollteste wissen als Ex-Bayer“, und rief, wobei er sich seinen Pullover hochkrempelte, wie immer griesgrämig, hinter die Theke, „Hausmarke bitte danke und guten Abend erstmal“, mehr eigentlich nicht.
„Okay, okay“, winkte ich meinen Überfall etwas ab und sagte, „bin nur total neugierig, aber klar, bestell erstmal“, wusste aber, dass er so reagiert. Jonny, den ich erst paar Monate kannte, war immer griesgrämig, hatte nicht nur äußerlich mit seinem weißen Haar und den dazugehörigen Halbvollbart ein weinig was von Almöhi aus dem Heimatfilm „Heidi“, sondern auch seines Berliner Dialektes wegen. Er hatte also einen, nur eben keinen Schweizer Akzent.
So erhielt Jonny seine Hausmarke und hob mir sein Hausmarkenbierglas zum Prost vor die Nase, was ich mit meinem 8-jährigen, 4 cl Cognac mit einem Sprutz Cola im schlichten Whiskyglas und einem fetten Eiswürfel, Gesamtpreis von 9,60 €, den ich mir hin und wieder des hervorragenden Geschmackes wegen gönnen musste, erwiderte, entgegen seinem für 2,70 € in einem 0,4 Liter geeichtem Bierglas, gefüllt mit dieser Hausmarke, die fast jede Kneipe in Berlin ihren Kunden als günstige Alternative anbietet. Ein eher No-Name-Bier also, das aus diesem „No-Name“-Grunde etwas günstiger als ein Markenbier ist, aber trotzdem durchaus trinkbar.
Der Klang der aufeinandertreffenden Gläser war sicher nicht so, wie es klingen musste oder wie eben aufeinandertreffende Biergläser klingen sollten, was Jonny nicht weiter interessierte und er ganz nach dem Motto „Nicht lang schnacken, Kopp in Nacken“ ordentlich anzog an seinem der Kälte wegen nass triefenden Bierglas, während ich nur ein wenig an meinem feinen Cognac nippte und diese Geschmacksexplosion in meinem Gaumen mit dem Rest meines Körpers verschmelzen ließ.
„Uahhhhh!“, brüllte er gedämpft, begleitend und nachhallend. Mit einem feinen Rülpser setzte Jonny sein Glas ab und stellte es, um der Bekundung seiner ständigen Unzufriedenheit Genüge zu tun, „ditt war aber och Zeit, wat'n scheiß Tach heute“, entspannend auf den ebenfalls klatschnass gewordenen Bierdeckel vor sich auf die Theke.
„Jaaaaaaaa“, erklang es dann dunkel und tief, fast schon wie in einem Western und es fehlte nur das „pass mal auf, Greenhorn“ und „nun zu Deiner Fraje“, folgte es letztendlich gemütlich aber besonnen. „N' toller Film, wirklich sehr interessant, hab ick mir ja nich so vorjestellt dit mit der Binnenschifffahrt, hast ja immer nur son bisschen erzählt. Aber warum haste denn die Bahn so janz und jar außen vorjelassen, die ist doch ooch wichtig im Transportwesen.“
Ich vergaß, dass Jonny ein ehemaliger Eisenbahner war und bis 1993 kurz vor deren Ende bei der Deutschen Reichsbahn, dieser Deutsche-Bahn-Variante der DDR, beschäftigt war und in deren Zusammenschluss auch für ihn kein Platz mehr gefunden wurde. Und trotz jähem Ende seiner Eisenbahnerkarriere und vielen anderen folgenden Beschäftigungen bis hin zur Rente hatte sie bei ihm noch ein Stein im Brett, die ehemalige Deutsche Reichsbahn und deren Gefolge.
„Ups“, meinte ich vermeintlich entschuldigend, seine Bahn vergessen zu haben, „na ja, weil die Bahn nicht wirklich Thema werden muss im Zusammenhang mit der Binnenschifffahrt. Die Leute reden nur immer, die Bahn könnte mehr machen, wobei dies gar nicht notwendig ist, sie hat mit der Zulieferung ins Landesinnere genug zu tun und schafft es nicht einmal, ihre Fahrgäste oder wenigstens annähernd nur deren Hälfte irgendwo pünktlich abzuliefern. 2.500 Tonnen Kohle, also die Menge aus einem fast schon ‚Standardfrachter‘, die eben bevorzugt diese Massengüter wie Kohle transportieren, könnte auch die Bahn in Güterwagen mit ca. 70 Tonnen pro Stück, also hintereinander gute 35 Stück davon von A nach B bringen.
Denke also nicht, dass dies wirklich das pauschale Problem wäre, immerhin fährt die Bahn zum Beispiel mit Containern sogar von Duisburg bis nach China. Die Bahn muss wirklich Prioritäten setzten, es muss doch kein Verkehrsträger dort ersetzt werden, wo die Infrastruktur für diesen Verkehrsträger existent ist und mit all dem Schlechten, womit wir Binnenschiffer uns rumquälen, hervorragend funktioniert. Außerdem, bei einer Wagenlänge von ca. 15 Meter mit Puffer wäre das eine Zuglänge von fast 550 Metern und das nur, um ein einziges Binnenschiff zu ersetzen. Das Großkraftwerk in Mannheim, das zurzeit effizienteste Großkraftwerk, bekommt manchmal an einem Tag 10.000 Tonnen Kohle und mehr geliefert und das ist, wenn alles in Betrieb ist, gelegentlich deren Tagesbedarf. Keine 40 Kilometer rheinaufwärts ist schon das nächste Großkraftwerk in Karlsruhe, das ebenfalls Kohle benötigt. Und zu alldem schafft die Bahn ja nebenbei auch Ware ran, nur eben nicht alles. Trotzdem hat die Bahn absolut keine Chance, nur annähernd einen Teil von all dem zu transportieren, was die Schiffe bringen. Die hat viel zu viel zu tun und muss sich auf das Landesinnere konzentrieren, das macht ihr schon genug Arbeit.“
Jonny nickte nachdenklich, aber verständnisvoll: „Hmmm, kiek an, bis nach China sojar, na jut, unsere Reichsbahn ist ja och überallhin bis nach Sibirien, glob soja, och nach China“, sagt er, sich an seine gute alte Reichsbahn erinnernd, „aber sowat jeht an den Menschen jenauso unbeachtet vorüber wie Ihr mit Euren Binnenschiffen. Warum och, looft doch allet. Überall brennt Licht, allet jut also.“
„Eben“, erwiderte ich, „es gibt auch keinen Grund, die Binnenschifffahrt entlang der Wasserstraßen zu entlasten, wo sie doch nicht einmal richtig ausgelastet ist. Die Binnenschifffahrt könnte noch sehr viel mehr als 220 Millionen Tonnen transportieren. Allerdings würden da einige Wasserstraßen schlapp machen.“ „Hääää? … Wie kann denn ne Wasserstraße schlapp machen“, fragte Jonny sich räuspernd und scheel blickend, „is doch ken festes Element, wat soll denn da kaputt geh'n?“ „So war's auch nicht gemeint, Jonny“, erklärte ich, „aber, wie Du im Film gesehen hast, ist die Binnenschifffahrtsflotte doch ganz schön modifiziert und sehr viel größer geworden in den letzten Jahren, vollgepfropft mit Technik und Raffinesse bis ins Detail.“
„Mensch Du, da haste aber recht“, schwärmte er, „richtig, en Begriff is mir ja nur dit DDR-Standard-Binnenschiff, die alle gleich ausjesehen haben und alle gleich groß waren. Ditt is ja schon irre, wat da draußen uff den Flüssen los is“, meinte Jonny. „Hat mich och total überrascht und hab ick so überhaupt nich erwartet und dass Ihr nich über die Reling kackt, fand ich im Kommentar janz besonders lustig. So haste als Denkanstoß dem janzen Ernst etwas Spaß verliehen, sehr jut. Bei Kindern macht man ditt ja och so, bisschen Spaß rinpackn, damit se besser verstehn. Und all ditt janze Moderne, meine liebe Tante Frieda, da wird ja selbst Käpt'n Kirk von der Enterpriese (was er auch so aussprach) neidisch.“
Und es machte tatsächlich den Eindruck, als ob er einer der ersten Landeier wäre, der sowas jemals gesehen hätte. Sogar etwas Dank empfand ich, ihm dies nähergebracht zu haben. Und Jonny machte erneut einen ordentlichen Zug aus seinem Hausmarkenbierglas. „Ja schön“, bestätigte ich seinen Freudentaumel. „Aber das Problem ist nur, dass die Infrastruktur, vor allem die der Kanäle, wie zum Beispiel der Wesel-Datteln-Kanal, Dortmund-Ems- Kanal und viele andere, all das Wichtige, damit diese Schiffe auch effizient eingesetzt werden können, keinerlei Modifizierungen erfahren haben. Wobei die Kanäle doch alle so wichtig sind, wovon keiner was zu wissen scheint.
Wir fahren also mit unseren nagelneuen hochmodernen Schiffen in steinalten, dem Zerfall geweihten Schleusen. Können in manchen Schleusen nicht einmal die Schiffe sicher festmachen, weil die Festmacheinrichtungen den schweren Schiffen nicht angepasst wurden. Schieben unsere Schiffe über Schlamm und Sandbänke, die keine Behörde für notwendig erachtet zu beseitigen. Nutzen immer schmäler werdende Wasserstraßen, die nur schmäler werden, weil die Behörden lieber die Bojen näher zusammenlegen, bevor sie eine Untiefe dauerhaft entfernen. Im Neckar, wo es immer ein Schleusenpaar, also 2 Schleusen pro Stauhaltung, gibt, aber meist nur eine Schleusenkammer funktionstüchtig ist, sagt dir der Schleusenmeister klipp und klar, aber lachend: ‚Du kannst gerne mit der anderen Schleuse schleusen, nur kannst Du nach dem Abschleusen nicht mehr ausfahren, weil im Unterwasser direkt nach der Schleusenausfahrt alles meterhoch versandet und verschlammt ist.‘ Selbst den Reedern ist all das scheißegal, die sitzen in ihren Nappaledersesseln, ziehen da an den richtigen Fäden und lassen uns machen. Die Reedereien passen ein neu zu bauendes Schiff eher den gegebenen unveränderten Wasserstraßensituationen an, als dass die Regierung der Wasserstraßensituation der modernen Schifffahrt nur einen Hauch Anpassung zuteilwerden lässt. Viele, nein, eigentlich alle Hafeneinfahrten müssten vergrößert werden, sie haben noch den gleichen Stand, dieselben Abmessungen, wie sie zum Teil vor 1900 erbaut wurden und Schiffe im Standard nur 67 Meter lang waren. Das Gleiche gilt für Hafenanlagen und Befestigungsmöglichkeiten. Nie wurde da ernsthaft was dran verbessert, nur Flickschusterei, wenn überhaupt. Die Hafenbetreiber sagen sich, warum muss ich dafür bezahlen, wenn der mehr transportieren will. Das, was ich habe, stell ich zur Verfügung. Ende. Und das ist nun mal Baujahr 1899. In der Tankschifffahrt ist das um einiges besser. Da haben wir die Ölkonzerne und einen umfangreicheren Sicherheitsaspekt auf unserer Seite.“
Jonny lauscht interessiert meinen Interpretationen einer sehr vernachlässigten Binnenschifffahrt, schüttelt aber doch recht häufig den Kopf, was sicherlich nicht seiner 74 Jahren geschuldet ist. Er ist ja noch recht klar im Kopf und als Techniker kann er schon ganz gut nachvollziehen, was ich so berichte. „Menste“, wuchs eine interessante Frage, „dit könnten noch jrößere Schiffe uff Fluss und Kanäle fahren, wenn die alle so en klen bisschen mitjedacht hätten, all die Denker und Lenker dieses Landes?“
„Aber klaaaaar“, quittierte ich seine Frage, „musst Dir vorstellen, da gibt es noch Schleusen, die nur 10 Meter breit sind, wo Schiffe mittlerweile im Standard 11,45 breit gebaut werden. Wobei ich auch keine Schiffe mit solch einer Breite mag und demjenigen, der dieses Maß standardisiert oder erlaubt hat, jeden Morgen, wenn er aus seinem Bett kriecht, sehr gerne eine Ohrfeige geben würde und das mit Anlauf. Doch ist das nun mal ein Maß, das sich festigen wird in den nächsten Jahren.“ Jonny lachte fragend:
„Hahaa, warum denn ditte, kannst doch den armen Mann oder der Frau, ditt wes man ja heute nicht mehr, wer sowat erfindet, nich einfach ohrfeijen. Und wat soll den der Blödsinn mit 11,45, wenn die Schleusen nur 10 Meter breit sind?“, fiel er mir fast ins Wort.
Also erklärte ich der Schiffsbreite wegen genervt: „Die 11,45 Meter breiten Schiffe wurden von irgendwelchen Denkern erfunden, damit Schiffe noch mehr tragen und transportieren können. Das muss natürlich auch von Amtswegen erlaubt werden. Ein 110 Meter langes mal 11,45 Meter breites Schiff trägt voll beladen um die 200 Tonnen mehr als ein Schiff mit nur 11 Meter Breite. Bei 50 Transporten im Jahr sind das 10.000 Tonnen, das ist eine Menge Holz und ich verstehe das auch.
Aber rumquälen mit diesen 11,45 müssen sich die Schiffsbesatzungen und die haben nichts davon, dass der Reeder 10.000 Tonnen mehr umgesetzt hat. Einen ‚Arschlochbreiteschiffszuschlag‘ gibt es ja leider nicht. Das Amt oder die Sachbearbeiter erlauben sowas natürlich, weil die auch alle keine Ahnung haben und womöglich der Antragsteller dieses Schiffsmaßes diesen Amtsträger in irgendeiner Form besonders lieb hat, wer weiß? Die Schiffe sind den Schleusen mit 12 Meter Breite nicht angepasst, sondern auf den Millimeter ausgereizt, damit die da gerade so noch reinfahren können. Und für die Schleusen von nur 10 Meter Breite werden eben Schiffe gebaut, die nur 9,60 Meter breit sind. Die sind genauso Scheiße zum Befahren bei 20 cm Platz bis zur Schleusenmauer auf jeder Seite. Der Mann vom Amt hätte Partei für die auszuführenden Personen, sprich die Schiffsbesatzungen, ergreifen müssen, damit sie diese Schiffe ordentlich händeln können und nicht für den Reeder oder Schiffbauer, dem dies scheißegal ist, wie man diese Kisten in eine Schleusen bringt.
Dass es ihnen allen ausschließlich um die Kohle im Sinne von Geld verdienen geht, muss man nicht nur vermuten. Die Schiffsführung ist immer extrem gefordert bei solch einer Schleusenfahrt, auch wenn alles immer so routiniert und einfach aussieht. Ein Maximalmaß von 11 Metern Schiffsbreite für 12- Meter-Schleusen und 9 Meter für 10-Meter-Schleusen hätte man von Amtswegen entscheiden müssen. Alles würde viel besser flutschen und wäre auch für Schiff und Schleusenmauer schonender. Doch bevor man in den Kanälen die steinalten Schleusen aus Kaiser Wilhelms Zeiten durch neue 12 Meter breite Schleusen ersetzt, was längst notwendig wäre, müssen eher all die, die ein neues Schiff bauen, weil es gerade in der Tankschifffahrt erlassene Gesetzte so vorschreiben, ihre Schiffe den veralteten Schleusenabmessungen anpassen, was für ein Schwachsinn …“
„Aha, mein Gott … Ihr armen, armen Säue“, sagte er, „da erheb ich doch mein Glas auf so viel Scheißdreck.“
Und zack ging es, als ob er ausgerechnet diesen Scheißdreck runterspülen müsste, von Jonny über die Theke, „eine Hausmarke bitte danke“, während ich noch immer an meinem teuren Cognac nuckelte, der von diesem riesigen Eiswürfel auch nicht wirklich weniger, doch um einiges dünner wurde und den ich vor lauter erzählen eher nur noch spärlich genoss. ‚Wirklich schade‘, dachte ich. Eigentlich grenzt ja dieser Schuss Cola schon an Blasphemie gegenüber dem edlen Tropfen. Aber ich mag ihn nun mal ganz genau so. „Na, und nu“, klang es fragend, „wat machste jetze. Ick kann Euch och nich helfen wenn de mir ditt allet durch Film zeigst und davon erzählst. Und bereichern tut ditt men Leben och nicht wirklich.“ Eine hochinteressante Interpretation der Sachlage, wie sie nur Jonny durch seinen trockenen Humor zustande brachte, die mich aber doch zum Lachen anregte. „Ach“, meinte ich gelassen, „ich schicke diesen Film einfach mal durch die Weltgeschichte und bringe das Thema Binnenschifffahrt durch Vorführungen in jede Räumlichkeit, die ich kriegen kann, ein wenig mehr in den Vordergrund. Es wird sicher nicht schaden und es sind sehr viel mehr Menschen daran interessiert, als man glauben mag. Natürlich Menschen wie Du und ich sind es, die an der Binnenschifffahrt Interesse haben“, klärte ich Jonny auf.
„Außerdem bleib ich dran, werde noch mehr machen, ist ja doch ein Fass ohne Boden.“ „Na, watt steht denn an als nächstes?“, fragte er. „Wovon könnte man denn noch berichten?“
„Oh je, Jonny, das ist eine sehr, sehr lange Liste, glaub mir das“, klagte ich schon fast ein wenig. „Ich würde wirklich sehr gern einen Film über diese Kanalsituation machen, was leider sehr schwierig ist, da dies nicht mein Fahrgebiet ist, ich dort, und wenn überhaupt, nur sehr selten hinkomme. Die Personalsituation ist auch ein sehr heikles und total brisantes Thema und vielleicht sollte ich mir Details dazu aufheben, bis ich in Rente, also in Sicherheit bin. Denn auch die Schifffahrt hat ein ganz extremes Nachwuchsproblem. Der Deutsche hat keinen Bock mehr auf so was Stressiges, so oft weg von zu Hause und unter Umständen 5 verschiedene Nationen auf einem Schiff, die muss man als 16-jähriger Auszubildende oder Auszubildender auch erstmal vertragen können. Die Leute aus dem Ausland haben mittlerweile auch bemerkt, dass die Lohnspekulationen ihrer Vorgänger zum Nachteil der gegenüber den bereits seit Jahren beschäftigten deutschen Binnenschiffern letztendlich ein großer Fehler gewesen ist, obwohl sie seit den letzten Jahren mindestens 50, eher 60 oder gar 70% aller Posten auf den Schiffen innehaben. Es wird nun schwer, das Lohnniveau wieder anzuheben. Allerdings, die Gegangenen wird dies auch nicht wieder zurückbringen. Wenn man alle ausländischen Mitarbeiter mit einem Fingerschnipsen von allen Schiffen wegzaubern könnte, würde die Schifffahrt wahrscheinlich im gleichen Augenblick brachliegen. Ohne die ganzen Menschen aus dem Ausland ist definitiv keine Schifffahrt mehr möglich und es ist einfach nur schade, dass sich auch hier so vieles nur des Geldes wegen zum Nachteil letztendlich aller Schiffsbesatzungen entwickelt hat. Aber wie gesagt, das ist ein wichtiges, wahrscheinlich nicht mehr abwendbares Thema. Womöglich wird der extreme Personalmangel die Löhne etwas steigen lassen, nach dem Motto, Du willst gutes Personal, dann musst Du gut bezahlen.
Eine kleine Dokumentation über den Neckar ist übrigens gerade in Arbeit und dieses Liegeplatzdesaster muss unbedingt auch noch umfangreicher dokumentiert werden.“ „Booooohhhhhh“, schrie er fast empört und drehte sich zu mir um, „hätte ick jetzt nich jedacht, dass da so viel Schlechtet bei Euch los is, aber ditt ist ja der Jipfel der Frechheit mit den Liejeplätze überall, wie kann man denn so Scheiße sein“, und zwischen der Empörung, „eine Hausmarke bitte danke, nee zwee Hausmarken bitte danke, für mein Freund Werner och ene, seine Conjacke ist mir zu teuer, die wärmste Jacke ist die Conjacke“, warf er anscheinend etwas angedüdelt hinterher und, „der brauch jetzt wat zum Abkühlen, glob ick“, und lachte. „Wat habt Ihr denen denn jetan, dass die Euch nich mehr leiden mögen, ditt jibts doch allet jar nich. Wenn ick ditt so richtig verfolje, ist doch allet hochmodern da bei Euch und Motoren lofen doch meist jar nich, wenn der Strom von Land kommt, ich versteh ditt nich.“
„So alles sachlich richtig verstehen tu ich das auch nicht, Jonny“, erklärte ich oberflächlich. „Da geht es um sehr viel Geld, Ansehen und Machtspielereien, jeder Bürgermeister und jede Partei jeder Stadt möchte sich mit irgendeiner prägenden Veränderung ein eigenes Denkmal setzen, so scheint es eher, Minderheiten haben da keinen Platz und diese miese, hinterfotzige Art und Weise, wie die uns vertrieben haben, dass muss einfach dokumentiert werden und das werde ich so gut wie möglich aus meiner Sichtweise auch tun. Du hast keine Vorstellung, mit welchen miesen Mitteln die vollkommen unerwartet, doch genau geplant gegen uns vorgegangen sind.“ „Kannst ja richtig böse sein“, sagte Jonny leicht erschrocken, „so kenn ick Dich ja jar nich, hier trink mal“, schob er mir meine Hausmarke näher, „ditt kühlt 'n bisschen ab.“
„Ganz sachlich, ehrlich und objektiv betrachtet“, sagte ich, „Jonny, Geld regiert die Welt, das muss ich Dir doch nicht erzählen und das war noch nie so präsent wie heute. Und all die, die mit unserem Problem zu tun haben und Entscheidungen treffen könnten, sind letztendlich die, die in all das investiert haben und damit ordentlich profitieren oder sich mindestens damit profilieren wollen, also mit all dem, was uns letztendlich die vielen Probleme bereitet. Das ist auch so ein wenig eine Art Charaktersache und daran mangelt es gewaltig. Sie werden den Teufel tun, sich in irgendeiner Form für uns zu entscheiden …
Die meisten dieser Leute können auch gar nicht mehr anders. Ihr Handeln, ihr unstillbares Verlangen nach Macht, ihre gegebenen Versprechen und letztendlich ihre Investitionen in diese Wahnsinnsobjekte erlauben keine Kompromisse mit einer bedeutungslosen Randerscheinung, einer immer missachteten Minderheit schon mal gar nicht.“
So klatschten Jonny und ich uns noch die eine oder andere Hausmarke ins Gesicht, so würde ich es im Nachhinein bezeichnen. Aus ein paar kleinen Interessensfragen wurde ein unterhaltsamer, langer Abend ohne ersichtlichen Erfolg für all das Schlechte, was so geschieht in der Binnenschifffahrt. Doch konnte ich Jonny für mich und die Binnenschifffahrt gewinnen und irgendwann, soweit waren wir, bevor wir unsere recht interessante Zeche beglichen, will Jonny auch mal mitfahren und sich ein Bild machen von dem, was uns den ganzen Abend zum Trunk gefordert hat …